Wohin ist Mami gegangen?

 

Das Schauen fällt mir so  schwer. Durch feuchte Augenschlitze blicke ich unsicher auf die verschwommenen, schwarzen Wellen, welche vor uns auf und ab wogen. 

"Wohin ist Mami gegangen?" 

 

Wie aus einem Kitschfilm erscheint mir die Szene. Einer jener Streifen, in denen  man bei  der ersten Einstellung  schon das Gefühl hat, ihn dreimal gesehen zu haben. Ein Meer schwarzer Regenschirme schützt ein Grüppchen schwarz gekleideter Personen mit weißen Gesichtern. Schwere, graue Wolken erleichtern sich über uns und der Regen pocht  unaufhörlich gegen die Stoffbarrieren in den Händen der Trauernden. So laut, daß ich die Worte des Pfarrers nicht verstehen kann. Selbst wenn mich sein Reden interessieren würde. Tropf , Tropf, Bla, bla, bla...

Was sagt der?

Was der da so daherredet.  Der hat die Maria doch gar nicht gekannt! Geschichten drängen aus seinem rosigen Mund. Worte die so viel Trost schenken könnten. Hoffnung für das Morgen und Übermorgen. Wäre da nicht dieser Gesichtsausdruck. Sein Mund spricht  vom Wandern in eine schönere, herrliche Welt bei Gott, seine Augen aber vom erhofften Abendessen. 

"Wohin ist Mami gegangen?" 

Der Blick dieses göttlichen Beamten ruht - während er weiter spricht - auf mir, als ob er mich fragen will: „Passt es so? Ich könnte noch mehr bringen. Mehr Gefühl, Leidenschaft, oder soll ich einen Witz erzählen? Nein?  

Na gut, dann mach ich schnell fertig.“ 

Die knorrigen, grauen Bäume wiegen ihre nassen Kronen als ob sie zum Blues tanzten, der in meinem Herzen klingt. "Wohin ist Mami gegangen?" 

 

Fernbedienung in die Hand und auf leichtere Unterhaltung umschalten geht nicht! Ich bin einer der beiden Hauptdarsteller in diesem Drama. Maria ist nicht mehr am Leben! Sagt man das so? 

 

Totgefahren, von einem Jugendlichen. Ungebremst hat er sie vom Zebrastreifen gerissen und in den Parkplatz des Supermarktes geworfen. Er war alkoholisiert. Angeblich ist das ja ein Minderungsgrund. Na gut, dann Schwamm drüber. Hasse ich ihn? Nein, ich will ihn nicht einmal kennen. „Wohin ist Mami gegangen?“ 

Marco presst sein kleines Gesicht an mich. Von oben sehe ich nur das runde Köpfchen meines fünfjährigen Buben mit dem kurzen schwarzen Haar. Seine langen Wimpern zittern im kalten Wind und seine nassen, runden Wangen drängen sich zwischen meine Oberschenkel. Als ob sie sich verstecken könnten vor den Berührungen der verlogenen, schwarzen Handschuhe. „Deiner Mami geht es jetzt gut.“ „Deine Mutti haben wir ganz lieb gehabt.“ „Alles wird wieder gut werden.“ „Kommst du mich einmal besuchen? Ich würde mich sehr freuen...“

So gerne würde ich Marco aufheben, ihn an mich drücken und einfach wegtragen. Weg von den schwarzen Leuten mit den weißen Gesichtern. Weg von diesem Holzsarg, welcher langsam in die nasse Grube schabt. 

Es riecht so modrig, dass mir das Atmen schwerfällt. Da unten soll Maria jetzt sein? Da geht’s ihr jetzt gut? 

Dahin ist Mami gegangen? 

 

Ich will nur mehr nach Hause. Aber was wird das jetzt für ein Zuhause sein? Leer wird es sein ohne Marias Stimme, ihr Lachen. Ihr ständiges Reden. Immer hatte sie was zu erzählen, zu besprechen. Wenn wir nicht mehr konnten, sprach sie eben mit sich selbst. Immer war sie da. Ihre tausend Sommersprossen, auch im tiefsten Winter. Ihr feuerroter Schopf. Sie war unser Heim! Jetzt habe ich Angst vor dem nach Hause kommen. Etwas Zeit bleibt mir ja noch, wir haben doch das Begräbnismahl zu feiern. Der Pfarrer sitzt schon am „Familientisch“. Wie hat der das so schnell geschafft? Ist eben doch Profi. 

Schnitzel mit Pommes mag jeder. Wein, Bier. Auf den hinteren Tischen herrscht Superstimmung. Bitte? 

Ja natürlich, suchen sie sich ruhig ein Dessert aus. Langsam gehen die Leute und ich darf endlich traurig sein. An meine Maria denken. Der Wirt will mir die Rechnung zusenden. Danke. 

 

Der Schlüssel will nicht in unser Schloss. Wieder und wieder drücke ich gegen die alte Tür die endlich nachgibt. Grob stoße ich sie auf und warte. Hoffe, Marias Stimme zu hören. „Wo bleiben denn meine beiden Männer so lange? Ja muss ich mich denn immer aufregen? Ständig unterwegs und ich verkomme hier vor Einsamkeit! Jetzt bekomme ich aber sofort einen dicken Kuss zur Wiedergutmachung, ihr Lausbuben!“ 

 

Stille! 

Aus der dunklen Wohnung hört man nur das Summen des Kühlschrankes. Nachdem ich das ganze, verfügbare Licht eingeschaltet habe, setze ich Marco in das Wohnzimmersofa. Noch letzte Woche hat Maria den Raum neu gestaltet. Warmes Orange und Terra Cotta. Weiße, fließende Gardinen, setzen die beiden Ölgemälde aus der Toskana erst in würdiges Licht. Wir freuten uns so sehr über ihren stilvollen Umbau. Und jetzt? Was soll ich jetzt tun? Ich muss Marco ins Bett bringen. Er wird wieder nicht schlafen. Langsam folge ich ihm in sein Zimmer. Müde greift er nach seinem Teddybären. Hast du Hunger? Nein? Seit gestern hast du nicht mehr gegessen. Maria, wie soll ich das alles schaffen? 

 

Muss ich Wäsche waschen? Ich kann doch nicht einmal bügeln.  Aber kochen kann ich. Wir werden nicht verhungern. Gut dass ich zu Hause arbeiten kann. Ich würde Marco jetzt niemandem anvertrauen. Er braucht mich mehr als...

Nein, wir brauchen  u n s  jetzt mehr als alles andere!

„Wohin ist Mami gegangen?“ 

Marcos Stimme klingt ganz leise aus dem Kinderzimmer. Langsam gehe ich zu ihm. Muss stehen bleiben. Mein Hals verkrampft sich.  Wie soll er das verstehen? Wie muss er damit umgehen? Ich weiß nicht, wie ich ihm helfen kann. Ohnmächtig knie ich mich vor ihm nieder. 

„Wohin ist Mami gegangen? Papa!“

„Zum lieben Gott Marco, in den Himmel ist sie gegangen und wartet dort auf uns. Dort ist es wunderschön und die Mutti ist ganz glücklich.“ 

 

Was sage ich da? Ich habe mir geschworen, ihn niemals anzulügen. Warum habe ich das gesagt? 

Ich habe doch entschieden, an keinen Gott zu glauben. 

Nie habe ich Gott gebraucht. Noch niemals habe ich ihn bemüht. Wo bist du Gott! Wo warst du bitte, als dieser besoffene Idiot auf Maria zusteuerte? Wo? 

Im Himmel, wo es so wunderschön ist? 

Ist mein Liebling bei dir?  Ach, wenn es nur so sein könnte. 

Marco schmiegt sich ganz eng an mich. Sein Gesicht presst er so fest an meinen Hals, als ob er eins mit mir werden wollte. Immer fester zerren seine kleinen Arme an mir. 

Marco ich bin bei dir. Ich liebe dich so sehr. Wir werden das schaffen und vielleicht wieder glücklich sein. 

Vertraue mir. Ich bin bei dir. 

Ruhig rede ich ihm zu während sein kleiner Körper von Weinkrämpfen hin und her gerissen wird. Seine Tränen rinnen auf meine Brust und vermischen sich mit meinen. Mein Hals schmerzt und ich kann der Not nicht mehr standhalten. Hilflos stehe ich in dieser Feuerwand und hoffe, dass wir schnell verbrennen können. 

 

Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist. Marco liegt, bekleidet mit seinem blauen Pyjama, in unserem Bett und seine Augen schauen mich müde an. Langsam verdunkle ich das Licht, lasse die Tür einen Spalt offen. Was soll ich jetzt anfangen? Ich habe keine Kraft mehr. Nur sitzen und warten. Der Telefonhörer liegt neben dem Telefon und summt leise vor sich hin. 

Lesen – ich kann mich nicht konzentrieren. Den Fernseher schalte ich nach einer Minute wieder aus. 

Nur warten. Ruhig sitzen und die Gedanken ausschalten. 

Ich schaffe auch das nicht. Immer wieder taucht in meinen Gedanken dieser hölzerne Sarg auf, wie er polternd und schabend in der stinkenden Grube verschwindet. 

„Heimgeholt“. Maria? Maria, wo bist du jetzt? Da unten, in dem Loch? Lebst du noch? Wo? Bei Gott? Bei welchem? 

Beim römischen, evangelischen, buddhistischen, beim islamischen? Wo?

Ich habe keine Antwort. Zu viel Menschheit. Dummheit. 

Zu viele falsche Priester! 

 

Für einen verstohlenen Blick auf Marco gehe ich leise Richtung Schlafzimmer. Seine Stimme klingt schwach aber ruhig.  Mit wem spricht er da? 

Durch den Türspalt sehe ich ihn aufrecht im Bett sitzen. Seinen Bären drückt er mit den verschränkten Armen an die Brust. „Lieber Gott! Wenn ich auch nicht so viel verstehen kann. Aber bitte sag meiner Mami, dass wir sie lieb haben, und, bitte hilf mir, dass ich bald nicht mehr so Bauchweh habe und bitte, bitte hilf mir, dass ich so gescheit, stark und tapfer werde wie meine Papa. Ich weiß, du kannst das!“

 

Ich stürze! All meine Kraft, all mein Selbstvertrauen, mein Mut, fällt mit mir auf die Knie. Auf allen Vieren krieche ich den Gang entlang und hoffe, Marco kann mein Weinen nicht hören. Jetzt liege ich neben dem Heizkörper und starre durch den Wintergarten auf den dunklen Himmel. Wie selbstständig beginnt mein Herz zu schreien. „Lieber Jesus Christus! Bitte schenke uns Frieden! Gib mir Mut und hilf uns in unserer Not.  Bitte Gott, schenke mir den kindlichen Glauben und das unbefangene Vertrauen an dich, welches auch mein Kind hat. Ich hoffe, du kannst das.“