Wenn es irgendeinen Ersatz für die Liebe gibt,

dann das Gedächtnis.

Etwas im Gedächtnis zu bewahren bedeutet,

Intimität lebendig zu erhalten.

( Joseph Brodsky )

 

 

 

„Wahnsinn“, „nein“!

Was ist denn Liebe? Ist sie nicht lebendig? Ist sie nicht existentiell? Ist sie nicht aktiv? Kann Vergangenes Liebe schenken? Was ist Liebe? 

Denk` doch nach!

 

Immer wieder - beim Lesen der Zeilen Brodkys - verliere ich mich in einem Adrenalinrausch. Fühle ich Wut und Trauer in mir hochsteigen. Das ist doch nicht Liebe. Liebe ist doch was Lebendiges. Etwas, das weh tut!

 

Ein Bild formt sich in meinem Kopf. Ein alter sterbender „Knacker", der - sein Leben lang Versager - seine Familie und die Gesellschaft betrogen hat. Nun liegt er da, den Zenit seines Versagens erreicht. Unfähig zu lieben. Hat er ja in 70 Jahren die Liebe nicht erkannt.

Der Filter der Eitelkeit, die Mauer des Egoismus verbunkert ihn. 

Macht ihn zu einer uneinnehmbaren Festung des Verlierens. 

Durch das Erklären seiner intimen Phantasien hoffend, von Interesse für irgendwen zu sein. 

Lächerlich und einsam.

 

Armer alter Mann. Das, was du für Liebe hältst, ist Dummheit. 

Das Abenteuer mit dieser ..., welch große Liebe. Jetzt fällt ihm der Name nicht ein. Ach, egal. 

Die „Alte" hat es nie erfahren. Die Kinder wohl auch nicht. 

Sie sprach von Liebe. Hat sich so sehr gefreut über deine Liebesbezeugungen. Die kleinen Geschenke. 

Aber leider, der Alkohol. Sie hat zu intensiv gelebt. 

Geliebt?

 

Opfer einer Verwechslung. Nein, nicht die Liebe hat ihr Leben zerstört, sondern Krankheit. Die Krankheit der Lüge. Flucht in den Selbstbetrug, um nicht das eigene Scheitern ertragen zu müssen. 

 

Die in der Mythologie des Lebens so weisen Griechen kennen drei Wörter für die Liebe. Sie sagen: „Eros“ und meinen „Gib“! 

Auch unser alter Mann sagte vor langer Zeit: “Wenn du mich wirklich liebst, dann öffnest du mir die Tür.“ Denn er brannte vor Liebe. 

Damals, als er noch gut im Saft stand. Ja, da mussten ihn seine Kinder noch nicht waschen. Seine angeschissenen Hosen wechseln. 

 

Damals wohnten sie noch alle zusammen. 

Glücklich? Na gut, er war immer etwas eigenartig. 

Die Kinder hatten... nein, es war nicht Respekt, diese vernünftige Haltung zum ... nein, es war Angst!

 

Doch er hielt sich für einen Könner. Eine Autorität. Immer ein witziger Spruch, immer eine Weisheit. 

Auch seine Kollegen lachten, wenn er lachte. Ja, er war wirklich unterhaltsam. Sie schimpften über Leute, die er verspottete. Sie waren seiner Meinung. Kumpels, Freunde. 

Dachte er jedenfalls. Sie aber spielten mit seiner Eigenliebe, gaben ihm Recht und lachten über seine Dummheit. 

Weiser alter Mann. Du bist nicht der, den du kennst.

 

Sie wussten alles über ihn. Seine Macken, seine Leidenschaft für Frauen. Alle kannten seine Begeisterung für die „Prallen", die „Gesunden", wie er sie bezeichnete. Er zeigte ihnen seine Lieblinge immer in diesen Journalen. Ja, er war eine Sammlernatur. Kein neues „Männermagazin", dem er nicht nachjagte. 

Die Arbeit interessierte ihn schon lange nicht mehr. „Nur das Hiersein zählt" sagte er immer wieder. Ich bin ja nur hier, weil ein Platz frei war, nicht weil ich arbeiten wollte. Ha,ha,ha... 

Auch die Kumpels lachten mit. Mehr aber über seine Angewohnheit, eine ganze Stunde auf dem Klo zu sitzen. Mit seinen Lieblingen.

 

Bis dann die - na wie hieß sie denn gleich - in sein Leben trat. 

Endlich konnte er „Mann" sein. Eine Geliebte! Ja, das fehlte noch in seinem Leben. Liebe! 

Seine Erfahrung einsetzen. Seine Frau war damals mit den Kindern oft allein. Jeder wusste es, außer ihr. Glaub` ich jedenfalls. 

Sie aber diente ihm bis zur Selbstzerstörung. Ertrug alles! 

Ein Menschenopfer für die Familie. 

 

Einmal, es war nach der Frühmesse am Pfarrhof, sagte sie: “Er muss halt so viel arbeiten, der Gute". War sie so naiv? War es Liebe? 

 

Der Pfarrer riet ihr zum Kauf einer ganzen Schachtel Kerzen. Auch ein Heiligenbild von ihrer Mutter Gottes hing dann über ihrem Bett. 

„Und dreimal täglich zu ihr beten! Wirst sehen, das hilft". 

 

Als er anfing, die Kinder zu schlagen, hat sie oft weinen müssen. Hat sich immer dazwischengestellt. 

Immer „den Watschenbaum gerüttelt". 

Immer verziehen. 

Aber ihre Gebete haben dann wirklich geholfen. Kraft geschenkt. 

Wie er dann krank war, hat sie noch mehr für ihn getan. 

Tag und Nacht hat sie ihn angeschaut. Mit glänzenden Augen seine Launen ertragen. 

„Ja, er hat es wirklich nicht leicht", sagt sie. 

 

Oft beschimpft er sie. „Du hast mein Leben zerstört! Was hätte ich alles erreichen können, erleben können"? 

„Ich habe euch mein ganzes Leben lang gedient wie ein Sklave". 

Sie hat es immer überhört. Seine Phantasiegeschichten nie geglaubt, bis... Der Herzinfarkt. 

Der Arzt hat gesagt, dass es besser für sie war. 

„Jetzt ist sie bei ihrer Muttergottes".

„Bitte, schaut`s auf euren Papa", hat sie noch ganz leise gesagt. Sie hat ihn ehrlich geliebt. 

Der Pfarrer redete von der Liebe, die das Leben fordert. Die schenkst du, wenn du alles gibst. Er sagte: „Es steht im Neuen Testament das griechische Wort Agape.“ 

 

„Denn so hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen geliebten, eigenen Sohn, Jesus Christus..."  

Agape! Die Liebe, die alles kostet.

 

Die Kinder waren wirklich traurig beim Begräbnis. Den Vater hat dann der Jüngste übernommen. Mit dem Haus. 

Richtig gewollt hat er ja nicht. Aber es ist ja doch der Vater. 

Und die Mama hat gesagt ... 

 

Gemocht? Ja, sicher mochten sie ihn. Aber er war ja schon eine Belastung. 

Sicher haben sie ihm verziehen, aber vergessen können? 

Freunde? Ja, Freunde wollten sie sein. Gegenseitig in Ruhe lassen. Den eigenen Willen... So lange es gut geht. 

 

„Phileo“ sagte der Jüngste. Phileo heißt Freundschaft. 

Haben sie im Griechischkurs gelernt. Als Vorbereitung auf den Griechenlandurlaub. Aber jetzt können sie eh nicht fahren. Wegen dem Alten. 

 

Aber der, der lebt ewig, der alte Trottel.

Kann niemals sterben! 

Er hat nie geliebt. Hat nie gelebt. 

Ein Bild nur, ist er. 

Geformt in meinem Kopf.