Der Weihnachtsbaum

 

 

 

Der Baum war verdorrt! Alles Staub.

 

Unverkennbar stand die Weihnachtszeit vor der Tür.

Mit allen Fassetten unserer abendländischen Kultur, inklusive den postmodernen Mutationen mit dem dazugehörigen homogenen Schnapsstandl-Blabla. 

 

Die weihnachtlich geschmückte Stube duftet nach den herrlich verzierten Keksen, die Mutter mit roten Wangen Lage für Lage aus dem heißen Küchenofen zieht. 

Im ganzen Haus liegt diese himmlische, so sehr herbeigesehnte Wärme. 

Vor dem mit Eisblumen geschmückten Fenster versinkt das Dorf in der winterlichen Dämmerung. 

Unter sanften, weißen Hügeln verborgen schlummert das Tal unter unserem Haus. Ruhig und malerisch, ganz melancholisch konnte man werden. 

Die Straßenlaternen zaubern dieses wundersame, sanfte Licht in die weiche Landschaft und in unsere weihnachtlichen Herzen. 

 

Leise rieselt der Schnee. Still und starr ruht der Vater in seinem großen Ohrensessel.

Mit verräterisch ruhigem Atem und geschlossenen Augen erliegt er der jodelnden  Fernsehkünstlerin. „Hollaredidödelüüü!“

 

Natürlich haben die Kinder der Mama geholfen!

Aufgeregt beobachten sie wie die schwitzende Mutti Keks für Keks auf das alte große Teller mit dem etwas abgegriffenen Goldrand schlichtet. 

Das Keksteller. Das hat die Oma schon - Gott hab sie selig - wie ein Heiligtum behandelt. 

Diese Ruhe, dieser vorweihnachtliche Frieden.

 

 

Mama! Mutti!

Ja, was willst du?

Sind das die Kipferl, die ich gedreht habe? 

Ja!

Sind das nicht die, die der Hubert gedreht hat? Mama!?

Nein, die hast du gedreht.

Sicher, Mama?

Ja!

Sind meine schöner als die vom Hubert?

Nein, alle sind gleich.

Ganz gleich?

Ja, ganz. Ganz und gar gleich!

Aber warum weißt du dann, dass das meine Kipferln sind? Die ich gedreht habe? 

Ich weiß es eben. 

Bist du dir sicher, oder weißt du es eben nur so?

Ich bin mir sicher!

Ich hab aber schneller gedreht als der Hubert. Stimmt´s Mama? 

Ja.

Hab ich dir jetzt mehr geholfen als der Hubert? Mama?!

Ja. Ja! Ja!!! Verdammt, geht´s bitte Fernsehen, ich flehe euch an!

 

Im Fernseher die schneebedeckte, dicke Jodlerin.

Langsam und vorsichtig wird der Ton zurückgestellt. Immer wieder auf den schlafenden Vater schielend. Leiser und leiser schreit die Dicke in die Weihnachtsnacht, bis sie nur mehr optisch präsent und somit vollkommen verzichtbar wurde. 

Jetzt! Vorsichtig! Kurzer Blick auf den Vater, den Knopf mit der Nummer 8 der Fernbedienung gedrückt. „MTV!“ Megafett die Gruppe! Zaghaft betätigt der Daumen den Lautstärkeregler.

Pumpfta, pumpfta, pumpftata, pumpft es mit langsamem Anschwellen der Lautstärke. 

Nervöser Blick auf den Ohrensessel. Der starre Vater ruht noch immer still vor sich hin. 

Pfff, Schwein gehabt! Jetzt nur noch ein bisschen lauter. Voll abgefahren die Tussi!

 

Was ist das jetzt!? Seh ich richtig? 

Wie ungeil!

Das Baby besteht ja nur mehr aus Haut und Knochen. Müssen die immer zu Weihnachten solche Bettlersendungen bringen? Wie ätzend! 

Wir müssen auch kämpfen für unser Geld! Also, zumindest der Papa. 

Wer schenkt denn uns was, hä?

Diese ganzen Schnorrerorganisationen mit ihren tausend Sekretärinnen und tausendfünfhundert Dienstmercedessen. 

Was sagt die? Fünfhundert Euro?! 

Nur fünfhundert Euro bekommt ein Arzt monatlich, der freiwillig in einem Krisengebiet hilft. 

 

Die Afrikanerin streichelt ganz zärtlich über die geschlossenen Augen ihres Babys. Der Schwarm Fliegen stiebt in alle Himmelsrichtungen davon, um nach Sekunden wieder auf den Beinchen Platz zu nehmen. 

Beine, nichts anderes als mit schwarzer Haut bedeckte Knochen. 

Drei Jahre alt ist Isabella. Fünf Kilogramm, wiegt sie. 

Ihre Mama ist zerbrochen. Sie hat keine Tränen mehr. Nur der starre Blick und die gekrümmte Haltung verraten es. 

Die beiden anderen Kinder neben ihr, sind schon länger tot. Isabella ist schon so schwach, dass sie nicht mehr schlucken kann. 

Marias Brüste hängen wie leere Hautlappen am Brustkorb. 

Schmerzen spürt sie keine mehr. Die Sonne, unbarmherzig und todbringend!

Ihre gelben Augen sind starr auf einen Punkt am Horizont gerichtet. 

Dort steht der Baum!

 

Immer wieder hört sie die Stimme des Dorfältesten der von diesem Baum erzählte. 

„Beim Baum ist das Leben“. Das sagte er immer wieder. „Beim Baum ist das Leben“.

Viele gingen fort um den Baum zu suchen. Keiner kehrte zurück. 

Die haben es sicher geschafft! Oder? 

Wo ein Baum ist, ist Wasser. Wo Wasser ist, sind Menschen. Wo Menschen sind, ist Leben. 

Dort, hinter diesem Steppental.  Die flirrende Hitze betrügt Marias Augen.

Maria wankt weiter durch den heißen Sand. Ihr ganzer Körper scheint unter der glühenden Sonne zu verbrennen. 

Isabella im Arm stolpert sie unbeirrt auf den Baum zu der dort über dem Tal steht. 

Mit ihrem dünnen Körper versucht sie ihrem Baby Schatten zu spenden. Auch, wenn sie dabei rückwärts gehen muss. 

Dort, der Baum. Sie sieht ihn. Dort werden Menschen sein. Möglicherweise weiße Menschen. Ja, die haben viel verändert. 

 

Marias Dorf ist völlig verarmt. Früher lebten sie an einem Bach der ihr kleines Land bewässerte. Sie züchteten Vieh und machten aus dessen Haaren Stoffe. 

In mühsamer Kleinarbeit webten, färbten und nähten sie die farbenprächtigen Gewänder. 

Die wurden dann am Markt zu einem fairen Preis an die reichen Afrikaner, „die Städter“, verkauft. 

Bis dann diese große Hilfsorganisation mit ihren gebrauchten, ausländischen Bekleidungsartikeln kam. Gebraucht, westlich und billig! 

Billiger als die Handarbeiten aus Maria´s Dorf. 

Während eines halben Jahres musste der Dorfälteste alle Stoffe zum Spottpreis abgeben, um die allernötigsten Nahrungsmittel und Medikamente kaufen zu können.  Denn auch der Bach war über Nacht verschwunden. Wohin? Keiner weiß wohin. 

Die Felder verdorrt, die Tiere notgeschlachtet und verwertet. Die Männer kraftlos geworden. 

Die folgten dann einem „Weißen“, der in der ganzen Welt wertvolle Uhren, Bilder, Feuerzeuge und Sonnenschirme verkauft. 

Der Mann wollte dann das mit den Männern verdiente Geld ins Dorf bringen. 

Aber er ist noch nicht gekommen! Vielleicht brauchen die Leute dort keine Sonnenschirme!

Maria bräuchte jetzt dringend einen. Für Isabella. 

Das kleine Mädchen liegt in ihren Armen wie eine Puppe. 

Und nur Maria sah, dass sie schön war. 

 

Was, fünfhundert Euro? Die sind wirklich toll, die „Ärzte ohne Grenzen“!

Die verzichten auf Urlaub, Zeit und Geld und stellen ihre Fähigkeiten in den Dienst der Nächstenliebe. Unter widrigsten Umständen. Es mangelt an allem! 

Die Kinder starren gebannt auf den Fernseher. 

Die sind nicht wie unser Arzt. Dem musst du schon einen Krankenschein in die Hand drücken  wenn du ihn nur flüchtig grüßt. Nur fünfhundert Euro im Monat für einen Spitzenarzt! 

 

Der Fernseher zeigt ein kleines Mädchen welches mit einer Magensonde gerettet wurde.

Die lebensrettende Notversorgung kostete zwanzig Euro. 

Jetzt, nach drei Wochen, kann es die Spezialmilch schon selbst trinken und manchmal auch ein ganz klein wenig lachen. Jetzt braucht es wöchentlich zwei Euro für Essen, Medizin, Kleidung, Hygiene und einen Schlafplatz. Zwei Euro in der Woche!

 

 

Die Blicke der Kinder treffen sich unvermittelt. „Zwei Euro wöchentlich brauche ich für meinen Kaugummi“, flüstert Hubert kleinlaut. 

 

Kinder! Die Mutter ruft aus der Küche.

Zieht euch um, sonst kommen wir noch zu spät auf den Christkindlmarkt. 

Und weckt Vati! Der sollte schon längst den Dachträger auf sein Auto geschraubt haben. 

Ich will nicht schon wieder meinen Kombi mit den Christbaumnadeln versauen. Ich hab ihn erst vorige Woche reinigen lassen. 

 

Treffen wir wieder Onkel Franz und Familie?

Das hoffe ich sehr. Obwohl, Tante Gerti...

Ach, wir werden schon sehen. 

Jedenfalls, wenn er euch heuer auch wieder anbietet einen Christbaum zu kaufen, dann nehmt eine große Silbertanne! Onkel Franz hat Geld genug und so eine Silbertanne ist schon was Besonderes. Da werden die ganzen Verwandten aber Augen machen! Habt ihr verstanden?!

Ja, ja!  Mama?

Was ist? 

Was hat denn ein Tannenbaum mit Christi Geburt zu tun? Mama?!

Was weiß denn ich! Schaut lieber, dass ihr fertig werdet!

Georg! Georg!   Mach doch endlich den Wagen fertig! 

Du könntest mich schon etwas mehr unterstützen! 

„Geh, lass mich doch in Frieden“. „Stille Zeit“ ist!

 

Der Christkindlmarkt ist wieder wunderschön beleuchtet! 

Jeder Verein hat ein lieblich geschmücktes Standl. 

Los geht´s! 

Mama, du weißt eh! zurück musst du fahren! 

Ja, ja. Pah..., die vielen lieben Leute. Schau, der Gerhard! Komm jetzt, geh doch endlich weiter!

 

Einen Schnaps beim Obstverein. Einen Schnaps beim Gartenbauverein, einen beim Kulturverein, einen beim Schützenverein. Einen Schnaps beim Kinderverein, einen beim Kirchenverein. Noch ein Schnäpschen bei den anonymen Alk..., Blödsinn, die haben ja nur Punsch! 

Ich kann keinen Schnaps mehr sehen. Ich steig jetzt um auf „Jagatee“. 

 

Kinder! Kinder! Habt ihr den Onkel Franz schon gesehen? 

Schaut euch ein bisschen um, aber bleibt in unserer Nähe! 

Was? Ja, kauft´s euch Maroni. Da habt´s ein Geld. 

Bitte?  Vier Euro?! Die werden auch jedes Jahr unverschämter! 

 

Die Kinder schwärmen aus. Alle Schulfreunde, alle Vereinskumpel sind da. 

 

Jeder weiß schon was das Christkind bringen muss. Nur die Überraschungen sind noch geheim. „Hoffentlich nichts Nützliches!“

 

Da drüben! Der Onkel Franz mit unserer „neuen“ Tante! Wie heißt die noch? 

Der lässt sicher was springen. Hallo! Onkel Franziii!

Hallo Kinder!

Grüß dich lieber Onkel Franzi! Wo sind denn die Inge und die Sonja? Und wo der Stefan und die Tante Gerti? 

 

Äh, habt ihr schon einen Weihnachtsbaum? 

Nein, der uns gefällt, ist einfach zu teuer. 

Aber was, so teuer kann der doch nicht sein, zeigt ihn mir einmal.

Oh, ist das eine schöne Silbertanne! 

Wieviel?  Neunzig Euro? Nicht gerade billig! Aber schön ist er ja. 

Während Onkel Franz seinen schweren Ledermantel öffnet, spricht er mit dem Verkäufer.

Aber eine Rechnung brauch ich!  „Hundertzwanzig Euro für Dekorationsmaterial“ 

Firma Franz Geber, hier im Ort. 

Nein Onkel Franz! Warte noch ein bisschen! 

Was ist? Gefällt er euch nicht mehr?

Doch, doch. Aber neunzig Euro! Damit kann ein afrikanisches Kind ein ganzes Jahr leben. 

Was Afrika? Sind wir in Afrika? Schau ich aus wie ein Neger? Das sind doch alles Schmarotzer! Faulpelze, welche die Gutmütigkeit von uns erfolgreichen Menschen ausnützen. Den Staat betrügen sie und was weiß ich noch alles. 

Erzählt mir doch nichts! Da kenn ich mich aus. 

 

Kleinlaut wenden sich die Kinder zum Weihnachtsbaumverkäufer. „Was hat eine Tanne mit Jesus Christus zu tun?“ 

Der Händler schaut Onkel Franz ganz traurig an. Seine kleinen Äuglein flehen als wollten sie sagen:  

„Ich hab auch Kinder. Bitte kauf diesen Baum!“ 

Seine zarten Hände stecken in feinen Lederhandschuhen, aus deren oberem Ende dicke, weiße Schafwolle quillt. Zitternd führt er sie, zu kleinen Fäustchen geballt, an den Mund, um noch etwas im Körper verbliebene warme Luft darauf zu hauchen. Kraftlos rufen seine kleinen Äuglein in die frostige Nacht. 

„Bitte, bitte Onkel Geber, kauf endlich diese verdammte Silbertanne!“

 

Onkel Franz, wir wollen diesen Baum nicht. 

Was?!  Wir wollen überhaupt keinen Baum! Ein Baum hat nichts mit Christus zu tun! Christus ist Leben. Dieser Baum nicht. Aber wenn du uns an Stelle des Baumes das Geld geben würdest, könnten wir es nach Afrika schicken und viele Kinder retten. Leben retten! 

Das wäre doch im Sinne Christi - oder? 

Christlich, christlich! Ein Christbaum ist ein heiliges Symbol!

Wofür? 

Na..., für Weihnachten eben! 

Der Baum ist ein Symbol Babilons. Die Augen der Kinder blitzen ganz nervös. 

Von der Wiedergeburt Nebukadnezars. 

Der Franzonkel donnert los. Wer redet denn so einen Schwachsinn?! 

Onkel Mario hat gesagt... 

Mit zornigem Blick brüllt er die Kinder in die Defensive. Onkel Mario ist ein Volltrottel! Der bringt noch die ganze Familie in Schande! Was weiß denn der von der Kirche? 

 

Seit der bei dieser Sekte ist, lachen alle Leute über uns. Ich will jetzt nichts mehr hören. Ja spinnt ihr denn jetzt auch schon?! 

 

Plötzlich steht die Mutter da. Flüchtig grüßt sie die „neue Tante“, lieblich den Franzonkel. 

Mit gefalteten Händen dreht sie sich zum Baum. 

„So eine wunderschöne Silbertanne“. „Hast du sie gekauft, Franzi?“ 

Der Baumhändler nickt mit einem flüchtigen Seitenblick auf den Herrn Geber. 

Der Franzonkel sieht es. 

„Aber Franzi, das wäre doch nicht nötig gewesen!“, sagt Mama, „der kostet doch ein Vermögen!“ Der Händler schüttelt fast unmerklich den Kopf. 

Der Onkel Franz ist stolz. „Wart, ich muss ihn noch bezahlen“. 

Die Rechnung nicht vergessen“, flüstert er dem Händler zu. 

In dessen Augen ist auch wieder etwas Leben zurückgekehrt. 

 

Maria kämpft mit letzter Kraft gegen den losen Sand, der ständig unter ihren Füßen weggleitet. Den halben Hügel noch und dann wird sie alles sehen! 

Das Wasserloch am Baum. Ein richtiger Brunnen vielleicht. Menschen laufen auf sie zu. Gute, weiße Menschen die ihrer Isabella helfen werden! Nur einige Schritte noch. 

Da, auf dem Hügel, der Baum.

 

„Er schaut wunderbar aus“. Kostbar geschmückt, daneben ein großes mit Keksen beladenes Teller. Der Goldrand ist schon etwas abgesplittert. 

„Hat nicht jeder“, sagt der Franzonkel, der mit seinen Kindern und der echten Tante vorbeigeschaut hat. „Nur auf einen Sprung“. 

„Ja, Weihnachten ist eine ganz besondere Zeit“, sagte der Vater, der heute aber ziemliche Kopfschmerzen hatte. Dann legte er sich wieder vorsichtig in seinen Ohrensessel. 

Die Kinder schauten traurig auf den Bildschirm des Fernsehers.

 

Da soll irgendwo in Afrika eine Isabella gestorben sein. Ihre Mama wollte unbedingt zu einem Baum, der auf einem Hügel stand. 

Aber der Baum war verdorrt, alles Staub.

 

„Müssen die gerade jetzt solche Bilder zeigen?“ Der Vater knurrt beleidigt. 

Ausgerechnet zur „heiligen Weihnachtszeit“!  Hubert! 

Ja, Papa!

Bekommt man schon irgendwo Sylvesterraketen?