Der Kommandant

 

 

Dumpfes Dröhnen quält meine Trommelfelle und droht meinen Kopf  platzen zu lassen wie eine überreife Melone. 

Das Pfeifen und Rumoren schweren Arbeitsgerätes versetzt mich in Unruhe. Immer wieder  wird es von kurzen, geschrienen  Anweisungen übertönt.

Diese Stimme kenne ich seit etwa sieben Jahren. 

Sie verbreitet Angst und Panik. Schrill durchschneidet sie die Luft.

Jedes Wort wirkt sofort! 

 

Jeder Widerspruch, der kleinste Ansatz von Opposition  - wäre er noch so vernünftig - würde sofort unterbunden. 

Die Andersdenkenden ab in den Plastikkübel. 

Existenz ausgelöscht. 

 

Ein Herrscher duldet keine Kritik. Schon gar nicht aus dem eigenen Land, von den eigenen Leuten. 

 

Plötzlich, wie auf ein Zeichen, Totenstille. Was war geschehen? Murmeln, flüstern, eine kurze Anweisung und schon folgt das Dröhnen eines Panzermotors, eingehüllt in das helle Klirren der Laufwerksketten. Immer wieder heult pfeifend die Turbine auf und zerrt das schwere Kampfgerät auf den Bergrücken. Langsam verstummt das Brüllen. 

Ein leises Surren der Elektromotoren lässt erahnen, dass jetzt der Panzerturm in die Richtung seines Zieles gedreht wird. Ssssssssst. Wieder ist es still. 

Hier lauert eine der brutalsten Vernichtungswaffen, welche der Mensch je erfand. Über mehrere Kilometer hinweg trifft diese gewaltige Kanone ihr Ziel. 

Hat er jetzt sein Opfer ins Visier genommen? 

Ein Dorf? Ein Haus? Was wird seine Granate bald zerfetzen? 

Eine Familie?

 

Nervös schleiche ich die Wand entlang bis vor die braune Holztür. Ich hoffe unbemerkt zu bleiben, um erst in Ruhe die Lage beurteilen zu können. 

 

Wie bin ich in diese Situation gekommen? Ich liebe die Kunst, den Frieden! Verabscheue Gewalt in jeder Form. 

Leise drücke ich die Türklinke, ziehe sie gleichzeitig an meine Brust, um jedes mögliche Geräusch zu unterbinden. 

So beschrieb es jenes Journal welches ich vor Jahren las. Es informierte über Agententricks. 

Langsam vergrößere ich den Türspalt und blicke direkt in die Augen jenes Menschen welcher sich selbst:  

„Der Kommandant“ nennt. 

 

Was wird er jetzt tun? Unbewusst krümme ich meinen Rücken. Verzweifelt suche ich meinen Kopf zu schützen, indem ich die gekreuzten Arme hochreiße. 

Ruhig mustert mich der Kommandant. Seine dunklen Augen sehen mich fragend an. 

Nichts erzählt das Gesicht über die Gedanken, die sein Gehirn beschäftigen. 

Bloß keinen Fehler machen! 

Entscheidet er gerade über meinen Tod?

Erstarrt erwarte ich seine Reaktion. Ich weiche seinem Blick aus, wie ein eingeschüchterter Hund in Erwartung der Schläge seines Erziehers. 

Seine braune Hose mit den seitlich aufgesetzten Taschen kann die im Bund steckende Pistole nicht verbergen. 

Das Hemd ockerfarben, mit schwarzen und grünen Flecken. 

Die Kappe mit tief ins Gesicht gebogenen Schirm, in der gleichen Tarnfarbe. 

Im dunklen Schatten, seine ruhigen Augen. Am Hals eine drei Zentimeter lange Schnittnarbe. 

 

Die rechte Hand schnellt in meine Richtung wie eine gereizte Kobra beim Ausführen des finalen Todesbisses. In der Faust erkenne ich den blitzenden Stahl seiner Pistole. 

Ich schreie auf: „Nein! Bitte nicht!“ 

Durch meinen Kopf flirren unzählige Bilder meines Lebens. 

Meine Eltern, meine Geschwister, meine Frau.  Gemeinsam schieben wir einen blauen Kinderwagen durch den verschneiten Park. Wir sind so glücklich mit unserem kleinen Baby, unserem Leben. 

 

Aus weiter Ferne höre ich das metallische Geräusch des Pistolenverschlusses. Klick! 

Erwarte den trockenen Knall. 

Den mächtigen Schlag des Geschosses. Noch denke ich darüber nach, ob zuerst der Schmerz kommen wird und dann der Knall oder umgekehrt? 

Ist es nicht egal? 

 

Papa! Papa schau einmal, ich muss dir was zeigen. Das ist die Festung der Guten. Ich bin der Kommandant von den Guten. 

Schau Papa, da habe ich die ganzen Abwehrtürme und da, die Versorgungslager und die Häuser von den Soldaten und deren Familien. 

Da hinten steht der Panzer. Schau Papa! Den habe ich da auf den Berg raufgestellt und der schießt dann rüber zu den Feinden. 

Schau, da drüben sind die Feinde! Papa! Papa, wie gefällt dir die Landschaft? 

 

Die Landschaft ist eine Anhäufung von Polstern, Leinentüchern und anderer Decken. Deutlich erkenne ich das Tote Meer, das Kidrontal am Fuße Jerusalems und weiter hinten, die Golanhöhen. 

Die Dörfer aus Legosteinen liegen so verstreut, dass es mir trotz meiner geografischen Kenntnisse Israels anfangs nicht gelingt, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Erst die Einweisung des Kommandanten lässt mich erkennen, dass die guten Legosiedlungen den bösen Holzklötzchenhäusern zu nahe liegen und eine militante Eskalation unausweichlich scheint. 

 

„Muss es denn immer Krieg sein?“ frage ich leise. 

Immer wieder verblüfft über die Faszination welche das Kriegspielen auf unseren Buben ausübt. 

Tod, Zerstörung, Gewalt. 

Sind das wir? Ist das unsere Natur? 

Das macht mich ehrlich unsicher. Matteo - so heißt unser Sohn - was gefällt dir den so sehr an dieser furchtbaren Katastrophe? 

Papa, du weißt doch, dass ich den echten Krieg nicht mag.

Der Spielkrieg ist doch nicht echt. Da passiert ja keinem was. 

„Das stimmt nicht mein Kind, deiner Seele passiert dabei etwas“ sage ich traurig, während ich in sein lustiges Gesicht blicke. 

 

Immer ist er fröhlich, immer höflich. Ein friedliebendes Kind, welches selbstbewusst Streitereien ausweicht und lieber geht, als das grobe Auftreten bestimmter Kameraden anzunehmen.

 

Was soll ich denn machen? Hysterisch herumschreien? 

Seine Spielsachen wegwerfen, zuschlagen mit der psychologischen Faust eines liebenden Vaters?

 

Zudem ertappe ich mich immer wieder dabei wie warmherzig ich die Zivildienst leistenden Männer lobe und sie als besonders intelligent darstelle. 

Trotz ihrer langen Pferdeschwänze, Lippen-, Ohr-, Nasen- und was weiß ich noch welche Piercings. Selbstzerstörerische Kulturverleugnung, die ich genau so lächerlich und unmännlich finde wie die Hosen, welche in ihren Kniekehlen baumeln. 

Was ist denn nur mit unserer ach so heilen Welt geschehen? Sind denn die Spiele meiner Kindheit nicht mehr gut genug? Heiliger Winnetou hilf! 

 

Ich glaube ihm, wenn er erklärt, dass er keinen Gefallen am Krieg findet. Will ihm glauben!

 

Papa schau! Hier sind die Panzerfäuste und hier steht das Lager mit dem Sprengstoff. Seine Männer lauern überall. Liegen in Deckung hinter der Spieltruhe, hinter dem Skateboard, an den Hängen des Berges Ararat oder was auch immer das sein sollte. 

Auch die Lego-Siedlung wird strengstens bewacht. 

Flankierend, das Maschinengewehr. Taktisch richtig eingesetzt, um den einfallenden Feind wirksam niederhalten zu können.

 

Aber wer ist der Feind? Ich frage ihn überwältigt. 

Da, siehst du nicht Papa? Tatsächlich, jetzt erkenne ich die Plastikmännchen mit den Rücksäcken auf den Schultern. 

In ihren Händen die Sturmgewehre, Panzerfäuste und Granaten. Essbesteck auf dem überladenen Buffet des Todes. 

Sie stehen auf der Bettkante und auf dem Fensterbrett, 

baumeln im Vorhang und an der Zimmerlampe. Wahnsinn, sie sind überall! Das Gesicht meines Sohnes verhärtet sich. „Jetzt schnapp ich mir ihren  Anführer.“ 

 

Wir schlucken beide nervös, bevor er langsam Richtung Golanhöhen robbt. Seine kleine Hand sucht die Spalte zwischen den Polstern, ergreift die Kehle des Todfeindes, zerrt  ihn aus seiner Deckung. Da hast du dich versteckt. Komm raus! 

Jetzt stehe ich ihm ungläubig gegenüber. 

Die Fratze des Todes, der Schlächter Israels und der gesamten christlichen Welt.

 

 

Mit seinen runden, schwarzen Augen grinst er mir mitten ins Gesicht. 

„Wie ist sein Name“, frage ich meinen Erstgeborenen mit unsicherer Stimme. 

Leise und ehrfürchtig spricht er diesen Namen aus. 

„Osama Bin Bärli“.

 

Bärli, bist du es wirklich? 

Sein Teddybär trägt ein kariertes Tuch auf dem braunen Kopf. 

Die runden Ohren waren nicht zu sehen. Er hält ein Messer in der Tatze. Sein rechter Fuß hängt kraftlos vom Rumpf. Einige „Operationen“ hat er schon hinter sich. Matteo liebt diesen Bären seit seinem ersten Lebensjahr. Sieben Jahre schon trägt, hält, zieht und wirft er ihn an seinem ramponierten, rechten Fuß. 

 

Wamm! Osama Bin Bärli knallt gegen die Zimmerdecke, stürzt mit lautem „Bäääee“ - Ruf kopfüber in die eigene Holzklotz Siedlung. 

Das Maschinengewehr spuckt Feuer. Ratatatatatata! Peng! Peng! 

Die Soldaten auf dem Kopfpolster stürmen Richtung Fensterbrett um den feindlichen Hunden den Hals vom Rumpf zu trennen. 

Rumms! Der Panzer trifft mitten in die Siedlung. 

Köpfe, Hände und andere Körperteile spritzen quer über das Tote Meer und bringen die Klagemauer bedrohlich zum wackeln. 

 

Jetzt die Bombe, schreie ich und schleudere gezielt den Tennisball in den Vorhang. Da, verreckt ihr Schweine! 

Klapper, klapper. Leblos plumpsen die Fallschirmjäger aus der Gardine, landen im Kidrontal. Süßer Geruch verwesenden Blutes erfüllt das Kinderzimmer. Langsam verstummt der Gefechtslärm. 

 

Wir keuchen, wischen uns den Schweiß aus den Augen. 

Zurück bleibt Verwüstung, Not und Elend. 

Krüppel, geschändete Witwen, verstümmelte Waisen. 

Vertrocknetes Land, zwischen dem Notebook und der Carrera Autorennbahn. 

 

Mit dem ernsten Blick eines Mannes, der weiß, dass er tun musste, was zu tun war, nimmt er meine Hand, und ruft: „Mama, was gibt’s heute zu essen?“  

 

Entsetzt starre ich in den Garderobenspiegel vor der Küche. 

Was bitte habe ich falsch gemacht? 

 

Noch oft denke ich über diesen Nachmittag nach. Immer wieder frage ich mich, ob das die normale Welt ist, in der wir leben. 

Wozu sind wir bereit? Ist nicht jede Gewalttat zuerst im Kopf entschieden worden? Begangen worden? 

Was sind wir?

 

Eine mögliche Antwort gibt mir das Bild meines schlafenden Sohnes. 

Gerne knie ich an seinem Bett und bete, bevor auch ich schlafen gehe. Matteos zartes Gesicht ist dann völlig entspannt. Immer wieder muss ich seine Wangen küssen, seinem ruhigen Atem lauschen, den Duft seiner kurzen Haare einsaugen.

 

Soll das die Antwort auf die Worte sein mit denen Jesus die ganze Welt so sehr verblüfft? 

 

Liebet eure Feinde, denke ich mir beim Betrachten meines schlafenden Jungen. 

Sein rundes Köpfchen mit der Fremdenlegionärsfrisur kuschelt sich in die flauschige Decke. 

 

Zärtlich drückt er seine Nase an den personifizierten Satan, Osama Bin Bärli.